Der folgende Artikel erschien im Begleitmagazin der „International European SABAKI Challenge 2014“, der offenen Vollkontakt-Karate Europameisterschaft:
Singende Kinder auf der Matte während der Weihnachtsfeier. Kinder, die selbstbewusst Instumentalmusik vor einem größeren Publikum präsentieren. Senseis, die sich in Sketchen ironisch selbst auf die Schippe nehmen…
Wie passt das alles zum Image eines harten Vollkontakt-Karatestils wie Enshin Karate?
Weitere Fragen drängen sich auf: Was sind die übergreifenden Ziele eines Karate-Trainings? Und was haben die oben geschilderten Auftritte mit diesen Zielen zu tun?
Uns ist die Beschreibung des Philosophen Albert Borgmann über die Merkmale eines „noblen Menschen“ in die Hände gefallen. Wir wissen nicht, ob Borgmann in irgendeiner Weise mit Budo zu tun hat, doch wir finden, dass diese Merkmale sehr schön die weitergehenden und langfristigen Ziele eines Karate-Trainings für den Einzelnen beschreiben.
Blicken wir auf die Dojokun des Enshin Karate, so fällt uns auf, dass auch hier die Ziele über das reine Karate-Training hinausgehen.
In den Dojokun verpflichten wir uns zu einem höflichen und respektvollen Verhalten anderen Menschen gegenüber. In einer solchen Geisteshaltung sind Überheblichkeit wegen sportlicher Überlegenheit oder Respektlosigkeit fehl am Platz.
Für die Praxis heißt das, dass wir in der Karate-Ausbildung zwei grundsätzliche Ziele verfolgen: die Entwicklung der Kampffähigkeit einerseits und ihrer wirksamen Kontrolle durch geistige Schulung andererseits (Beachtung der Etikette, Verantwortung für den Partner etc.).
Die Einstellung gegenüber Lehrer und Partner zeigt sich durch die Grußform der Verbeugung, die gegenseitige Achtung und Respekt bezeugen soll. Der Lehrer muss im Unterricht den Hintergrund und Sinn dieser Formen deutlich machen, damit die Etikette nicht nur als exotisches Beiwerk angesehen wird.
Die Dojokun verlangen, dass Animositäten, Rivalitäten, Abneigungen, die vielleicht außerhalb des Unterrichts bestehen, nicht in den Karate-Unterricht hineingetragen werden dürfen. Jeder ist dazu angehalten, mit jedem Partner zu kooperieren, d. h. als Übungspartner zur Verfügung zu stehen. Profilierungsversuche einzelner auf Kosten Schwächerer sind vom Lehrer sofort zu unterbinden.
Die Einsicht für die Verantwortung für den Partner soll im Unterreicht geweckt werden. Damit verbunden ist die Hilfestellung, die jeder seinem Partner leistet. Durch häufigen Partnerwechsel bei den Übungen lernen sich die Schüler kennen und entwickeln ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl.
Wenn man in diesem Zusammenhang das Konzept betrachtet, so wirken die Regeln für das Training auf den ersten Blick wie „autoritäre“ oder „rigide“ Trainingsanweisungen, die im Widerspruch zum hier geschilderten ganzheitlichen Ansatz eines persönlichkeitsbildenden Erziehungsstils stehen. Aber ein Hinweis auf die potentiell gefährlichen Inhalte des Trainings machen deutlich, dass diese klaren Regeln mit ihrer geradlinigen und festgelegten Struktur ein gefahrloses Training ermöglichen und Verletzungen vorbeugen. Angelegenheiten emotionaler und persönlicher Natur werden nicht ins Training hineingetragen, sondern nach dem Training bzw. an anderen Orten besprochen.
Im Dojo werden alle Schüler gleich behandelt, gleich welchen Alters, Geschlechts oder welcher Graduierung sie sind. Dadurch werden Rollenklischees abgebaut und Selbstbewusstsein entwickelt. So fühlt sich jeder Schüler in der Gemeinschaft aufgehoben. Speziell Frauen erleben sich selbst als stark, sowohl körperlich als auch mental.
Die Enshin-Dojokun zeigen uns im traditionellen Sinne des Karate ein Konzept auf, das Auswirkungen auf alle Lebensbereiche hat und damit auch als eine Hilfe zur Lebensbewältigung und Charakterbildung gesehen werden kann.
Karate war ursprünglich eine Sache auf Leben und Tod. Wegen dieses Totalitätsaspektes und der existenziellen Bedeutung verlangte die Kampfkunst Karate eine Integration ins Leben des Schülers mit einer Ausstrahlung auf sämtliche wichtige Lebensbereiche. Deshimaru Roshi schreibt dazu:
„[…] die Kampfkünste sind weder Sport noch Spiel. Vielmehr liegt in ihnen ein weit tieferer Sinn: der Sinn des Lebens überhaupt! Und damit der Sinn des Todes, denn diese beiden sind untrennbar miteinander verbunden.“
Die Ernsthaftigkeit und Unbedingtheit der Kampfkunst Enshin Karate zeigt sich für den Schüler auch darin, dass er im Training auch mit Schmerzen als einem Aspekt der Übung konfrontiert werden kann. Dadurch lernt er
„[…] den auftretenden Widrigkeiten nicht so übergroße Bedeutung beizumessen, sondern dem Durchführen der Übung in der vorgeschriebenen Weise absolut den Vorrang zu geben.“
(Obereisenbuchner)
In letzter Konsequenz gibt es deshalb auch nicht die Möglichkeit „mal ein bisschen Karate zu machen“.
Noch einmal Obereisenbuchner:
„Dojo-Etikette und Übungsdisziplin lassen einem nur die Wahl, die leidvollen Aspekte der Übung zu akzeptieren und sie zumindest mit äußerer Gelassenheit zu ertragen oder die Übung im Dojo aufzugeben.“
Enshin Karate als Kampfkunst zeigt darüber hinaus die Möglichkeit eines grundsätzlichen Lebensentwurfs auf, der als Gegengewicht zur Konsumorientiertheit aufgefasst werden kann.
Lassen wir zum Schluss Randall Hassell zu Wort kommen, einen hochdekorierten Karateka:
„I was always taught the ‘hard way‘ was the only way to learn karate. In the Buddhist tradition, the Japanese are taught there are two ways to go through the life. One is the way of jiriki (the way of self-denial and self-reliance) and the other is tariki (the way of reliance of others). My teacher explained jiriki ist the way of walking along the road, facing and overcoming all obstacles. Tariki, he said, is like riding through life in a limousine with a chauffeur at the wheel. He said most people go through life in the tariki manner, and they never gain real strength or deep inside into themselves. When he spoke of jiriki as a way in karate, he called it nangyo-do [the way of hardship]. ‘If you take the easy way,’ he warned, ‘you cannot learn karate-do’.”
Jürgen Höller und Axel Maluschka
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