Ich saß letztens mit Seminarteilnehmern am Mittagstisch und ein Mitarbeiter, nennen wir ihn Meier, stellte eine gewagte These auf: »Die Faulheit der Menschen ist die Triebkraft für Innovation und Fortschritt.«
Ich lächelte still in mich hinein und entschied, der Tischrunde zuerst einmal zuzuhören.
Ein Kollege von Meier, nennen wir ihn Ötztürk, erwiderte: »Die Menschen sind doch nicht prinzipiell faul! Und außerdem führt doch Faulheit nicht zu Fortschritt. Im Gegenteil: Faule schaffen nichts.«
»Doch, doch«, erwiderte Meier, »der Bequeme sucht nach Möglichkeiten, sein Leben zu erleichtern, zu vereinfachen. Ohne die Bequemlichkeit wäre nie die Fernsehfernbedienung erfunden worden. Oder das Auto.«
Es entbrannte eine spannende Diskussion, bei der sich schnell zwei Fraktionen bildeten. Meiers Befürworter waren deutlich in der Unterzahl. Es widerspricht der deutschen Mentalität, etwas Gutes in der Faulheit zu entdecken.
Nach einigen Minuten schaltete ich mich in die Diskussion ein: »Ich habe das Gefühl, dass Sie aneinander vorbeireden.«
Ich hatte alle Aufmerksamkeit.
»Die erste Frage, die Sie klären sollten, ist: Was ist Faulheit?«
»Ist doch klar«, rief Ötztürk, »faul sind Leute, die sich nur ausruhen wollen. Die nichts leisten wollen.«
»Diese Faulheit meine ich gar nicht«, sagte Meier. »Ich rede von der Bequemlichkeit, die in jedem von uns steckt. Sie nehmen doch auch jeden Morgen den Aufzug zum Büro.«
Ötztürk nickte vorsichtig, aber ertappt.
»Sie reden demnach von verschiedenen Formen der Faulheit«, fasste ich zusammen. »Die eine Form bezeichnet die generelle Antriebslosigkeit, etwas zu tun. Wobei ich hinzufügen möchte: heutzutage in unserem System zu tun. Es gibt sicher einige hoffnungslos demotivierte Langzeitarbeitslose oder Mitarbeiter, die innerlich gekündigt haben, die in anderen Systemen viel leisten würden und könnten. Stimmen Sie dem so weit zu?«
Die Tischrunde nickte weitgehend.
»Die zweite Form von Faulheit«, fuhr ich fort, »ist eher die Bequemlichkeit, die jedem von uns innewohnt. Wir können sie auch als den Versuch bezeichnen, mit seinen Ressourcen optimal umzugehen. Und ich glaube, das ist die Faulheit, die Herr Meier meint, während Herr Ötztürk eher die erste Variante im Kopf hatte. Richtig?«
Meier und Ötztürk nickten.
Nunmehr entwickelte sich die Diskussion fruchtbar für alle Beteiligten. Alle kamen überein, dass die zweite Form der Faulheit gut und sinnvoll sei. Die Ressourcen klug nutzen zu wollen, ist wichtig und sicher ein grundlegendes Bestreben von uns Menschen, das uns letztlich als Art innerhalb der Evolution global erfolgreich werden ließ.
Ich flocht ein, dass auch unsere Firma Movivendo auf diesem Grundprinzip beruht. Wir zeigen in Coachings und bei der Gesundheitsförderung Wege auf, wie Firmen mit zum Teil kleinen Veränderungen ihre Ressourcen deutlich besser nutzen können.
Eine dritte Art der Faulheit haben wir an dem Tag nicht beleuchtet: den Müßiggang. Dass er mit seiner Schwester Langeweile unbedingt seinen Platz im Leben haben sollte, zeigt unter anderem Verena Steiner in ihrem Buch »Energy« auf, das wir heute auch hier empfehlen.
Doch zurück zur ersten Variante der Faulheit, deren Bedeutung wir alle wahrscheinlich als erstes im Kopf haben: der Antriebslosigkeit. Ich schreibe jetzt nicht über krankhafte Formen der Depression, sondern über Menschen, die seelisch weitgehend stabil sind und dennoch keine optimale Leistung bringen. Woran liegt das?
Die schnelle Antwort, die mir oft begegnet, lautet: Es liegt an den Mitarbeitern selbst. Manche wollen oder können halt einfach nicht, sie haben keine Lust, schaffen das Pensum nicht, sind pessimistisch und generell antriebslos. Da kann man nichts machen. Die Strategien vieler Chefs, solchen vermeintlichen Ursachen zu begegnen, lautet: Ignorieren oder Mitarbeiter loswerden. Letzteres gipfelt dann in Instituten, die zeigen, wie man die so genannten »C-Mitarbeiter« entlarvt und loswird.
Beide Strategien sind unserer Überzeugung nach grundsätzlich nicht optimal. Sie gehen von falschen Prämissen aus. Und sie zeugen von einem Menschenbild und strukturellen Ansichten, die Fortschritt und Produktivität hemmen.
Jeder kann etwas!
Zum Menschenbild: Kennen Sie jemanden, der gar nichts kann? Gut, spontan fielen mir sicher zwei bis drei ungeliebte Gestalten ein, die ich hier gern nennen würde. Doch wenn ich meine Antipathie diesen Menschen gegenüber beiseite schiebe, finde ich auch an ihnen Seiten und Talente, die in bestimmten Situationen und Konstellation vorteilhaft sind, waren oder wären. Jeder Mensch hat auf mindestens einem Gebiet ein Talent!
Wenn wir davon ausgehen, muss die Strategie eines Vorgesetzten lauten: Entdecke das Talent deines Mitarbeiters, fördere und setze ihn dementsprechend ein. Klar kann ich mich anfangs in den Fähigkeiten eines neu eingestellten Mitarbeiters täuschen. Doch das gehört zum unternehmerischen Risiko. Wenn ich den Fehlbesetzten einfach wieder loswerden will, beachte ich die Gesamtkosten dieser Strategie nicht. (Beispiel: Die Unzufriedenheit und/oder Angst der verbleibenden Mitarbeiter, die letztlich hemmen und blockieren.)
Doch ist der Mitarbeiter schon motiviert, wenn er seinen Talenten entsprechend eingesetzt wird? Sicher nicht in jedem Fall und hundertprozentig. Hier gilt es, weitere Parameter einer optimalen Arbeitsumgebung zu betrachten.
Da sind zum einen die Bedürfnisse des Mitarbeiters und die Bedürfnisse der Firma. In wieweit sind beide im Einklang und berücksichtigt? Der Mensch ist immer dann bestens motiviert, wenn seine Bedürfnisse erfüllt sind oder er sich die Erfüllung durch sein Handeln verspricht. Ein Mitarbeiter, der beispielsweise die Grundbedürfnisse Freiheit und Wachstum hat, ist sicher in der Buchhaltung schlecht aufgehoben. Während der Mensch, der hauptsächlich Geborgenheit und Zugehörigkeit anstrebt, womöglich kein guter Unternehmer ist.
Hier schält sich die optimale Strategie für den Umgang mit Mitarbeitern heraus: Talente und Bedürfnisse finden und die Menschen entsprechend einsetzen und entwickeln.
Und wo ist das Soziale? Sind wir Menschen nicht auch vornehmlich soziale Wesen? Die Atmosphäre unter den Kollegen wird produktiv, freundlich und wertschätzend, wenn die einzelnen Mitarbeiter sich wohl fühlen und ihre Talente entfalten können. Letztlich ist der Chef gefragt, wenn es um Stimmung, Produktivität und Leistung geht. Genau diese zu fördern, ist einer seiner Jobs.
Was denkst du?